Die Suche vor grep - Eine Entwicklung von Geschlossenheit zu Offenheit?

In den vergangenen Jahren wurde das Internet zunehmend durch Praktiken des Suchens definiert: seine Ressourcen werden meist durch ein Suchfeld erreicht.1 Das Internet ist neu, aber das Durchsuchen von Informationsammlungen natürlich nicht. Und obwohl es so aussieht, als hätten die modernen Suchmethoden viel des alten Apparats hinter sich gelassen, und als sei Information „frei“ und autonom, kann ein historisches Verständnis der Entwicklung dieses Apparats zur Klärung dessen beitragen, was tatsächlich neu ist, und vielleicht auch Aufschluss darüber geben, was in der entstehenden Welt der digitalen Suche möglich ist und was nicht. Dieser Essay versucht in einer sehr spekulativen, unvollständigen und fragmentarischen Form eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie eine solche Geschichte aussehen könnte.

Duguid Paul

In den vergangenen Jahren wurde das Internet zunehmend durch Praktiken des Suchens definiert: seine Ressourcen werden meist durch ein Suchfeld erreicht.1 Das Internet ist neu, aber das Durchsuchen von Informationsammlungen natürlich nicht. Und obwohl es so aussieht, als hätten die modernen Suchmethoden viel des alten Apparats hinter sich gelassen, und als sei Information „frei“ und autonom, kann ein historisches Verständnis der Entwicklung dieses Apparats zur Klärung dessen beitragen, was tatsächlich neu ist, und vielleicht auch Aufschluss darüber geben, was in der entstehenden Welt der digitalen Suche möglich ist und was nicht. Dieser Essay versucht in einer sehr spekulativen,  unvollständigen und fragmentarischen Form eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie eine solche Geschichte aussehen könnte.

Die Welt von grep

Die Trennung zwischen der kurzen Periode der digitalen Suche und ihrer langen, analogen Vergangenheit kann durch zwei Gs veranschaulicht werden, die für grep und Google stehen. Grep ist ein äußerst mächtiges Suchwerkzeug, das 1973 für UNIX entwickelt wurde.2 Es ermöglicht den Suchenden, digitale Dokumente nach „regulären Ausdrücken“ zu durchsuchen, nach jedem darstellbaren Teil oder string (der Buchstaben, wild cards, Leerräume, Satzzeichen oder Zeilenenden beinhalten kann) in der elektronischen Version eines Texts zu suchen. Sein nächstliegender Vorgänger war wahrscheinlich die umständliche Konkordanz, diese funktionierte jedoch nur mit ganzen Wörtern und fällt weit hinter grep zurück. Googles Intervention lässt sich jedoch sogar anhand des Abstands zu seinen digitalen Vorgängern Veroncia, Archie, Alta Vista und Yahoo! messen. Deren Suchverfahren beruhten in unterschiedlichem Maße auf hierarchischen Ordnungen. Google hat diesen Zugang implizit aufgegeben und ermöglicht es uns, strings ohne Rücksicht auf die hierarchischen Ordnungen in der herkömmlichen Organisation von Dokumenten ausfindig zu machen und die Ergebnisse nach der Intertextualität des Internet zu reihen.3 Grep und Google haben das Suchen in eine Welt der Information überführt, in der Semantik, Syntax und Hierarchie keine Rolle spielten. Das Suchen wurde damit zu einem Mechanismus und ein Beispiel für die Abkehr von altbekannten materiellen, begrifflichen und institutionellen Beschränkungen, und die Hinwendung zu „offenen“ Informationslandschaften, für die sich die Vertreter von Open Source und Web 2.0 einsetzen.4

Die Vision einer offenen, modularen und nicht-hierarchischen Informationslandschaft ist nicht ganz neu. Paul Otlet, der Großvater der „Informationswissenschaft“, vertrat schon vor langem die Auffassung, dass ein Buch weniger eine Informationsquelle als eine Einschränkung von Information ist:

Die äußere Beschaffenheit eines Buchs, sein Format und die Persönlichkeit seines Autors sind nicht von Belang, solange sein Inhalt, seine Informationsquellen und seine Schlussfolgerungen erhalten bleiben und zum Bestandteil der Wissensorganisation werden können, einer unpersönlichen Arbeit, die von allen durchgeführt wird [...] Ideal wäre es, [...] jeden Artikel und jedes Buchkapitel von sprachlichen Feinheiten, Wiederholungen und Ausschmückungen zu befreien, und das, was neu ist und eine Vermehrung des Wissens darstellt, separat auf Karten zu sammeln.5

Bill Mitchell, der Dekan des MIT-Media Lab, brachte eine ähnliche Sichtweise des Buchs als Einschränkung des freien Ideenflusses zum Ausdruck, als er es als nichts anderes als „Holzspäne in einer toten Kuh“ bezeichnete – eine veraltete
Technologie, deren Zeit abgelaufen sei, und die durch etwas Neues ersetzt werden müsse. Auch anderswo sprach man sich für „virtuelle“ Bibliotheken oder „Bibliotheken ohne Wände“ aus, betrachtete das Internet als Bibliothek, oder drückte den Wunsch aus, die informationsfeindlichen Lasten der Vergangenheit abzuschütteln und Wissen oder Information im Sinne Otlets zu sammeln. Steward Brand fasste diese Ideen in einem prägenden Satz zusammen: „Information
will frei sein“.

Auch wenn diese Vorstellungen merkwürdig anmuten – Mitchell scheint sich nicht darüber im Klaren darüber zu sein, dass ledergebundene Bücher nicht mit holzhaltigem Papier gemacht werden, und Brand darüber, ob Information etwas wollen kann oder überhaupt imstande ist, frei zu sein – die Geschichte, zumindest die von den Siegern erzählte Geschichte, scheint ihnen Recht zu geben. Die Tools, die von den zwei „Gs“ eingesetzt wurden, haben triumphiert und ermöglichen es uns, völlig neue Formen des Suchens durchzuführen. String-Suchen im Stile von grep haben es uns ermöglicht, unseren Interessen zu folgen, anstatt sie Konkordanzen und Hierarchien unterzuordnen, die anderswo hergestellt wurden. Informations-Entkernungsdienste wie Google Books haben materielle und institutionelle Beschränkungen überwunden, um vollkommen neue Zugangsformen zu ungeheuren Datenmengen zur Verfügung zu stellen, weshalb Google trotz eines nicht-hierarchischen Ansatzes davon spricht, „die auf der Welt vorhandene Information zu organisieren“. Ohne den bemerkenswerten Erfolg dieser Technologien in Abrede zu stellen, lohnt es sich doch, die Frage zu stellen, ob dieser Fortschritt Teil einer kontinuierlichen Entwicklung in der Geschichte der Suchmethoden ist, die sich von geschlossen zu offen und von beschränkt zu frei, kurz gesagt, von einer dunklen Vergangenheit in eine aufgeklärte Zukunft bewegt.

Eine Geschichte der Welt vor grep und Google kann diese Fragen erhellen. Und je mehr wir behaupten, die gegenwärtigen Möglichkeiten seien etwas noch nie Dagewesenes, desto mehr stehen wir in der Pflicht, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Oder wie können wir sonst wissen, was noch nie bzw. was schon einmal da gewesen ist?6 Ein Blick auf die Geschichte des Suchens zeigt, dass es eine gehörige Portion Voreingenommenheit erfordert, um von einer linearen Emanzipation der Information zu sprechen, in deren Verlauf die materiellen und institutionellen Fesseln durch technische Innovationen gesprengt und nur durch revanchistische Angriffe auf den Fortschritt gebremst wurden.

Solche technische Darstellungen neigen zu darwinistischen und spenserschen Annahmen zum menschlichen Verhalten. Kilgour, ein ernsthafterer Wissenschaftler als viele jener, die sich einer teleologischen Sprache bedienen, bietet eine Variante dieser Geschichte in seinem Werk Evolution of the Book. Er erklärt die Auslese und das Aussterben in seiner evolutionären Geschichte mit einem angeborenen menschlichen Drang zur Informationssammlung. So behauptet er zum Beispiel, dass „das Bedürfnis, Information schneller zu finden, als es mit einem Buch in der Form einer Papyrusrolle möglich ist, zur Entwicklung des griechisch-römischen Index im zweiten Jahrhundert geführt hat“.7 Ich will zeigen, dass eine solche Darstellung der menschlichen Bedürfnisse zwar ihren Reiz hat, aber sowohl die Komplexität der Vergangenheit als auch die Herausforderungen der Zukunft unterschätzt. Das menschliche Informationsbedürfnis wird hier als a-historische, kulturunabhängige Konstante begriffen, die zu allen Zeiten und für alle Menschen gilt, welche ihrerseits ständig auf der Suche nach neuen Sammeltechnologien sind. Eine solche informationsorientierte Darstellung hat ihren Nutzen, kann aber auch irreführend sein, weil sie zeigt, wie wir die Tätigkeiten unserer entfernten Vorfahren sehen, aber übergeht, wie sie diese selbst gesehen haben. Das Übergehen der Differenz zwischen diesen beiden Sichtweisen ermöglicht es uns, die Vergangenheit für die Unterstützung gegenwärtiger Interessen in die Pflicht zu nehmen, auch wenn die Vergangenheit bei näherer Betrachtung eine solche Unterstützung nicht bieten kann. Die tatsächlichen Muster des menschlichen Verhaltens sind, wie ich zu zeigen hoffe, komplexer als deren Darstellungen in evolutionären oder emanzipatorischen Erzählungen. Zum Teil deswegen, weil die Informationsbeschränkungen, die wir so oft überwinden wollen, gleichzeitig Informationsquellen sein können, die uns zwar nicht notwendigerweise helfen, Information zu finden, aber uns oft ermöglichen, das Gefundene in kulturell spezifischer Weise zu beurteilen. Da die Beurteilung eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass der Erfolg der Suche nicht dem Zufall überlassen bleibt, müssen solche Beschränkungs-Ressourcen oft in einer anderen Form geschaffen werden, welche nicht so recht zur konventionellen, progressiven Erzählung passen.

Suche, Speicherung, Organisation

Um grep und Google richtig zu verstehen, müssen wir über die bloße Suche hinausgehen und uns mit Speicherung und Organisation befassen. Googles Aufgabe ist, aus seiner eigenen Sicht die „Information der Welt zu organisieren“, um sie „allgemein zugänglich und nützlich zu machen.“8 Die wirkliche Macht Googles liegt heute weniger in seinen innovativen PageRank-Algorithmen als in seinem riesigen Bestand an offener Information (die von der nicht so offenen Information, die Google aus den Suchen in diesem Bestand gewinnt, verfeinert und mit tags versehen werden), dem also, was Battelle als Googles „Datenbank der Intentionen“ bezeichnete.9 Das Verhältnis zwischen Speicherung und Suche ist wichtig, denn wenn wir den Blick auf die ferne Vergangenheit richten, dann finden wir vorwiegend Zeugnisse der Speicherung, aus denen wir den historischen Charakter der Suche nur ableiten können.10 Ein sehr früher, aber merkwürdig vertrauter Eindruck der Speicherung ist am Anfang des antiken Gilgamesch- Epos zu finden, wo von Zedernholzkisten mit Bronze-Verschlüssen die Rede ist, die Tafeln aus Stein und Lapislazuli enthalten – wobei Stein das erste Medium ist, auf dem menschliche Ideen aufgezeichnet wurden, und verschiedene Arten von Kisten damals ein Aufbewahrungs- und Ordnungssystem darstellten und dies auch noch heute tun. Die relativ wertvollen Werkstoffe Zedernholz, Bronze und Lapislazuli deuten auf eine bestimmte Ordnungshierarchie hin und machen deutlich, dass die Abenteuer von Gilgamesch eine Geschichte waren, die es verdiente, erhalten zu werden.11

Im Nahen Osten der Antike, in dem Gilgamesch angesiedelt ist, wurde Stein schon bald durch Ton ersetzt. Dieser ist im nassen Zustand formbarer, im trockenen Zustand jedoch fast so haltbar wie Stein. Seiner Haltbarkeit ist es zu verdanken, dass wir Kenntnis von alten Sammlungen in dieser Region haben, wie etwa von der „Bibliothek“ des königlichen Palasts in Ebla (ca. 2300 v. Chr.), deren robuste Tontafeln bis heute erhalten geblieben sind.12 Sie vermitteln uns eine Vorstellung davon, was gespeichert und vermutlich gesucht wurde. Buchhaltungs- und Verwaltungsdaten und religiöse Gesänge herrschen in diesen und anderen frühen Bibliotheken vor, aber auch zweisprachige Wortlisten und andere Vorläufer konventioneller Nachschlagewerke sind zu finden. Frühe Sammlungen waren relativ klein (der Raum in Ebla maß nur ca. 3,5 x 4 Meter). Allerdings wurde in dieser Region und in den nächsten zwei Jahrtausenden das Anlegen von Sammlungen um vieles ehrgeiziger, während die Inhalte zunehmend von weniger praktischer Natur waren und immer mehr im Bereich der freien, anstatt der unfreien Künste angesiedelt waren. Große Sammlungen, so wie die Bibliothek von Ninive, die vor allem von dem gelehrten assyrischen Herrscher Aššurbanipal angelegt wurde, sowie die ikonischen Bibliotheken von Alexandria, die unter Ptolemäus I und II errichtet wurden, schufen mit zunehmendem Selbstbewusstsein Platz für Philosophie, Astronomie, und literarische Werke wie Gilgamesch. Sie nahmen auch an absoluter Größe zu: die Sammlungen von Alexandria umfassten mehr als 500.000 Objekte.

Die relativ kleine Vielfalt von Dokumenten in Ebla scheint nach Typus abgelegt worden zu sein und wurde vermutlich von den Gelehrten benutzt, die diese und ähnliche Werke geschaffen haben. Demnach wären aufgrund der direkten Kenntnis der Dokumente kaum „Suchhilfen“ erforderlich gewesen. Doch in dem Maße, wie die Sammlungen an Umfang zunahmen und auch von anderen benutzt wurden, stellte sich auch die Notwendigkeit von anspruchsvolleren Ordnungs- und Suchsystemen ein. Die Sammlung von Hattuša (2. Jahrtausend v. Chr.) benutzte ein Kolophon-System, um jedes Dokument zu identifizieren. Dieses lässt auf eine Art Zentralkatalog schließen, der benutzt wurde, um bestimmte Dokumente zu finden und zu durchsuchen. Einen ähnlichen Zweck erfüllen die Buchrücken in modernen Bibliotheken. In Alexandria stellte der erste Leiter Zenodotos die Bestände nach Typus auf und führte den alphabetisch geordneten Katalog ein. Kallimachos, möglicherweise ein weiterer Leiter der Bibliothek, führte später einen komplexeren Katalog ein (der selbst 120 Bände umfasste), in welchem die Werke nach Autor und Kategorie sortiert waren, wobei die Autoren auf die „herausragenden“ beschränkt wurden und die Kategorien in Unterkategorien unterteilt waren. Damit stellte er einen Rahmen von hierarchischen Ordnungen für die Sammlung her, wie er auch heute noch zur Verwaltung großer, komplexer Bibliotheken eingesetzt wird.13

Immutable Mobiles

Dass solche Sammlungen auf Basis verschiedener verstreuter Quellen aufgebaut, zusammengestellt und aufgezeichnet werden konnten (durch Erwerb oder aggressivere Formen der Aneignung), weist auf die Mobilität, Anpassungsfähigkeit und in gewissem Maße die modulare Autarkie der Werke in diesen Sammlungen hin.14 Im äußersten Fall lässt sich diese Mobilität mit der Immobilität etwa von Höhlenmalereien, Wandreliefen u. ä. vergleichen.15 Eine derartige Sammlung aufzubauen und zu organisieren, wäre auch mit den Steintafeln des Gilgamesch schwierig gewesen, war jedoch mit den Papyrus- und Pergamentdokumenten von Alexandria viel einfacher. Latour hat für diese Dokumente den nützlichen Begriff der immutable mobiles geprägt, und im Übergang von Stein auf Papyrus zeichnet sich eine Spannung zwischen den beiden Teilen dieses Begriffs ab.16 Die zunehmende Mobilität und Faltbarkeit, die den Aufbau, die Organisation und das Durchsuchen dieser großen Sammlungen ermöglichte, stellten eine Herausforderung für jene Immobilität dar, welche es möglich machte, dass Dokumente im Verlauf der Zeit unveränderlich blieben.

Stein und Ton widerstanden der „alles verschlingenden Zeit“, aber auch der Organisation. Im Gegensatz dazu konnten Papyrus und Pergament relativ leicht organisiert, neu geordnet und zusammen genäht werden, waren aber auch empfindlicher und konnten leichter beschädigt werden, absichtlich oder unabsichtlich. Der Inhalt der sumerischen „Tafelhäuser“, der zum Großteil aus dem Äquivalent der heutigen Ephemera bestand, hat 5000 Jahre bemerkenswert intakt überstanden, der Inhalt der Bibliothek von Alexandria ist so gut wie verschwunden. 17

Trotz der zunehmenden Empfindlichkeit scheint der Mobilität der Vorzug gegeben worden zu sein, außer bei monumentalen Inschriften. Die Texte wanderten von Stein auf Ton und weiter auf geschmeidigere Materialien. Welche Materialien eingesetzt wurden, war zum Teil eine Frage der geographischen Lage. Alexandria nutzte die am Nil wachsenden Pflanzen, um Papyrus herzustellen. In Griechenland und Rom, wo Papyrus nicht verfügbar war, wurden bibliothekarische Dokumente vorwiegend auf Pergament (der Name geht auf die große Bibliothek von Pergamon zurück), kurzlebigere Schriften auf Ton oder Wachs aufgezeichnet. Im Norden Indiens wurde Birkenrinde verwendet, im Süden Palmblätter, in China Holztafeln, Bambus und Seide. Doch der Ort war nicht das alleinig Ausschlag gebende. In Indien etwa machte der Status der Rinder die Verwendung von Pergament unmöglich.

Die chinesische Erfindung des Papiers, das so gut wie überall hergestellt werden kann und keine verbreiteten Tabus verletzt, setzte sich letztlich bei fast allen Dokumenten als Trägermaterial durch. Selbst heute wird Papier noch gerne als Trägermaterial verwendet (manchmal sogar als Versicherung gegen den Verfall digitaler Speichermedien), obwohl es vielleicht das instabilste aller genannten Materialien außer Wachs ist, was darauf schließen lässt, dass die Mobilität in Latours Begriffspaar gegenüber der Unveränderlichkeit wohl triumphiert.18 Wenn das Druckhandwerk, wie manche behaupten, mit der chinesischen Tradition des Kopierens konfuzianischer Klassiker mit Papierabdrucken von Steingravierungen begann, dann erfasst dieser Prozess auch den symbolischen Übergang der Kommunikation von primär unveränderlichen zu primär mobilen Medien. Das Papier, das leichter als die meisten Alternativen markiert und verändert, geklebt, genäht und geheftet werden konnte, eröffnete neue Möglichkeiten der Speicherung, Ordnung und Indizierung. Die Einführung des Papiers sollte jedoch nicht einfach als linearer Fortschritt in Richtung von Brands Freiheit und Autonomie verstanden werden. Die wichtigsten Eigenschaften des Papiers lassen darauf schließen, dass seine Attraktivität hauptsächlich mit seiner Eignung für institutionelle Sammlungen zusammen hing, welche im Gegenzug Schutz gegen seine fehlende Widerstandsfähigkeit boten.19 Papier hat zweifellos zu wirksameren Suchtechniken beigetragen, allerdings innerhalb und nicht abgeschottet von institutionell verankerten Organisationshierarchien.

Schlechte Interpunktion

In der Bedeutung dieser neuen materiellen Grundlage für die Suche spiegelt sich wohl auch die Eignung des Papiers für eine neue Dokumentenform, eben jenen Kodex, der Mitchells Spott auf sich zog. Was wir heute unter dem modernen Buch verstehen, mit seinem harten Umschlag und den sequentiellen, einzelnen Seiten, die aus größeren Bögen hergestellt werden, ersetzte allmählich die Schriftrolle, als Papier an die Stelle von Pergament trat. Da diese beiden zusammen gehören (Papier lässt sich leichter falten als Papyrus oder Pergament, die sich besser für Rollen eignen), ist es einfach, eine Geschichte zu erzählen, in der eine neue Technologie aufgrund ihrer besseren Eignung für den naturgegebenen menschlichen Drang des Informationsammelns eine alte ersetzt. Kilgour, der diese Auffassung vertritt, erklärt die großen Lücken in diesem Ablöseprozess, in denen nichts Interessantes geschieht, mit Hilfe von Goulds Begriff des punktuellen Gleichgewichts.20

Solche Geschichten der Unterdrückung, der Auslöschung und des Gleichgewichts müssen mit Vorsicht behandelt werden. Allzu oft werden die alten Technologien als primitiv und statisch dargestellt, um die neuen Technologien als anpassungsfähig zu loben.21 Die Schriftrolle war in Wahrheit eine sehr anpassungsfähige Form, innerhalb derer manche der langlebigsten Merkmale des Suchapparats – die wir meist mit dem Kodex und dem Druck assoziieren – entstanden sind.22 Was die Anpassungsfähigkeit der Schriftrolle an menschliche Bedürfnisse betrifft, war diese ungemein handlich. Sie ließ sich leicht transportieren, aber auch verbergen, weshalb Sokrates Phaedros mit der Frage neckte, was er denn unter seinem Mantel verberge (eine Frage, die auch Derrida quälte). Freilich hat auch der Kodex seine Vorteile. Er konnte viele der Merkmale der Schriftrolle importieren, aber auch neue, bisher unbekannte hinzufügen. Er ermöglicht es zum Beispiel, auf zwei Seiten eines Dokuments zu schreiben (was natürlich auch bei Tontafeln möglich war). Er wies der Seite (und der Doppelseiten- Faltung) eine wichtigere semantische Rolle zu und führte einen klar gezogenen Rand ein, der für Anmerkungen und Noten von Bedeutung ist.23 Auch wenn der Kodex vielleicht nicht leicht zu transportieren war, so war er leichter zu lagern und zu stapeln, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass Fragen der Lagerung und der Organisation Vorrang gegenüber dem individuellen Zugang hatten. Überdies konnte, wie der römische Dichter Martial feststellte, ein kleiner Kodex, auch membrana genannt, mit nur einer Hand gehalten und gelesen werden (eine Möglichkeit, die Rousseau reizte).

Aber auch wenn die Vorteile gegen die Nachteile abgewogen werden, sollte man sich vor vereinfachenden Schlussfolgerungen bezüglich Überleben und Aussterben hüten. Angesichts ihrer etwas unterschiedlichen Eigenschaften und Potenziale ist es nicht überraschend, dass diese beiden Formen – die Schriftrolle und der Kodex – parallel existierten, wie an einem berühmten Gemälde von Pompeij zu sehen ist, wo eine Figur einen Kodex hält und die andere eine Schriftrolle. Die Periode dieser Überschneidung war keineswegs kurz. Der ursprüngliche Wachs- und Holzkodex (von dem die Bezeichnung stammt; Kodex = Holztafel) existierte als praktisches Notizbuch schon lange, bevor er zu einem herausragenden Gegenstand der Hochkultur und zu einer Bedrohung für die Schriftrolle wurde. Clanchy weist darauf hin, dass in England noch lange, nachdem sich der Kodex durchgesetzt hatte, Schriftrollen für rechtliche und politische Dokumente verwendet wurden, und dass die Schriftrolle zumindest bis ins späte 19. Jahrhundert als wichtigstes Aufzeichnungs-, Speicher und Organisationsdokument des Chancery Court in Verwendung war. Digitale, am Bildschirm wiedergegebene Dokumente zeigen außerdem, dass die Schriftrolle immer noch nicht ganz tot ist. Bei Googles Buchprojekt werden die Seiten der gescannten Bücher gescrollt, während in anderen, direkteren Übertragungsformen wie etwa Early English Books Online von Seite zu Seite gesprungen werden muss.

Ein breit angelegter Überblick

Auch wenn deutlich zu sehen ist, wie das gedruckte Buch über die handgeschriebene Schriftrolle triumphiert, ist es doch problematisch, einen evolutionären Zugang zur Entwicklung des Buchs als Werkzeug der Informationssammlung zu entwickeln. Um dies zu sehen, reicht der folgende, geographisch und historisch breit angelegte Überblick.24 Sobald der Blick über Europa hinaus gerichtet wird, erscheint die gängige Geschichte des Triumphs des Westens zunehmend verwirrend. Wenn nur das Papier betrachtet wird und Hinweise beiseite gelassen werden, wonach es schon 300 Jahre vor seiner offiziellen Erfindung in China im Jahr 105 n. Chr. existierte, dann benötigt diese für viele zentrale Informationssammlungs- Technologie überraschend lange, um sich in andere Gesellschaften zu verbreiten, von denen die evolutionäre Sicht annimmt, sie seien ebenso informationsbesessen wie China gewesen. Es dauerte 500 – 600 Jahre, bis das Papier Indien und den Nahen Osten erreichte, und weitere 500 Jahre, bis die kurze Entfernung von dort nach Westeuropa überwunden war. China hatte im 8. Jahrhundert auch schon die Xylographie und im 11. Jahrhundert die beweglichen Lettern eingeführt. Doch obwohl sich mit Kodex und Papier in Europa und Byzanz eine solide Manuskriptkultur herausbildete, dauerte es immer noch bis zum 14. Jahrhundert, bis die Xylographie entwickelt wurde, und bis zum 15. Jahrhundert, bis die anscheinend so umwälzende Einführung der beweglichen Typen erfolgte. Außerdem erwies sich China trotz seiner Wertschätzung der Information als resistent gegen den reinen, leicht zu durchsuchenden Kodex und blieb stattdessen bis weit in das 17. Jahrhundert bei der „Sutra-Falzung“.25

Obwohl sowohl Korea als auch Japan einen starken Einfluss auf China ausübten und ihrerseits von China beeinflusst wurden, folgten sie einer anderen Chronologie. Korea hatte bereits im 3. Jahrhundert das Papier, im 8. den Buchdruck, und 50 Jahre vor Gutenberg bewegliche, alphabetische Lettern, doch der volle Umfang des westlichen gedruckten Kodex und die Zeitung, die Febvre und Martin als zentrales Informationswerkzeug sehen, wurden erst Ende des 19. Jahrhunderts von Japan „eingeführt“. In der Zwischenzeit sah es fast so aus, als würde Japan die Evolution umkehren. Japan führte im frühen 7. Jahrhundert das Papier aus Korea ein und war im 8. Jahrhundert in der Lage, die vielgepriesenen Gebetssprüche der Kaiserin Shõtoku in einer Auflage von etwa einer Million zu drucken, doch Buchdruck zum Zweck des Lesens (die Sprüche verkörperten keinen kommunikativen, sondern einen rituellen Akt) wurde nicht bis ins 11. Jahrhundert entwickelt (deutlich vor Europa). Doch selbst dann fand er kaum Anklang, und die Typographie wurde erst wieder mit den Jesuiten im 17. Jahrhundert eingeführt.

Die indischen Palmblätter-Bücher oder Pothi haben möglicherweise die Sutra-Falz in China inspiriert. Auch Indien hatte ab dem 6. Jahrhundert Papier. Allerdings setzte sich sein Einsatz erst 700 Jahre später allgemein durch, und obwohl die Briten in Indien Druck verwendeten, nutzten die Inder diese Technik bis in das späte 19. Jahrhundert kaum für sich selbst. Wie Bailye in Empire and Information zeigt, verfügten die indischen Gesellschaften über hoch entwickelte Kommunikationssysteme. Daher muss die Erklärung in der „Informationsordnung als Ganzem liegen, und nicht in einer bestimmten Dimension davon.“26 Die islamischen Kulturen kannten den Kodex fast von Anfang an, und das Papier ab dem 9. Jahrhundert. Vom islamischen Nahen Osten aus verbreitete sich das Papier langsam nach Europa und Byzanz (in letzterem wurde das Papier nach seinem Ursprungsort „Baghdad“ genannt). Während es in den islamischen Gemeinschaften oft jüdische und christliche Druckereien gab, verbreitete sich der Druck in den islamischen Kulturen selbst erst im späten 19. Jahrhundert. Die jüdischen Gemeinschaften ihrerseits dürften den Kodex erst im neunten Jahrhundert angenommen haben, während sie bis zu diesem Zeitpunkt zumindest in den Augen der Christen über ihre Nähe zur Schriftrolle identifiziert wurden.27

Dieser geschichtliche Abriss mag unzureichend sein, aber er macht es schwierig, einem einfachen Technikdeterminismus das Wort zu sprechen, oder von einem fundamentalen Informationsimperativ der menschlichen Natur auszugehen. Es wird allgemein anerkannt, dass sich der Kodex im Westen weniger wegen seiner kommunikativen oder suchfreundlichen Eigenschaften verbreitete, sondern als Kennzeichen einer Religionszugehörigkeit. Er verbreitete sich mit dem Christentum, da die Christen ihn einsetzten, um sich von älteren Religionen, die die Schriftrolle verwendeten, abzusetzen. Ähnlich wie iPhone oder iPod war der Kodex gleichermaßen ein kulturelles Kennzeichen und eine effiziente Technologie der Informationsbereitstellung. Es wäre natürlich verfehlt, nicht anzuerkennen, dass der Kodex in Praktiken eingebunden wurde, die uns zunehmend informationszentriert und technisch determiniert erscheinen. Doch es ist wichtig, diese Praktiken nicht von einer breiten Palette anderer zu isolieren, die sich nicht so einfach reduzieren lassen. Im Westen war der Kodex ein religiöses Instrument, und lange Zeit wurde seine Entwicklung als Such-, Organisationsund Speichertechnologie von den Veränderungen beeinflusst, die der Gebrauch dieser Texte in der betreffenden Religion erfuhr. Die Entwicklungen in der christlichen Lehre veränderten das Erscheinungsbild und den Gebrauch des Kodex während der langen und oft unterschätzten Zeitspanne zwischen seiner ersten Verbreitung und seiner Entwicklung zum wichtigsten Printmedium im Westen. Besonders in der außergewöhnlichen Zeit zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert ersannen christliche Gelehrte neue textuelle und intertextuelle Ressourcen, um den Zugang, die Suche und die Referenzierung zu erleichtern. Diese Fortschritte könnte man sich beinahe als Wegbereiter des Drucks vorstellen. Aufgrund der Verbreitung der Minuskel in Westeuropa und Byzanz, aber auch der Silbentrennung, der Absatzbildung und der Zeichensetzung wurde der Text in leichter zugängliche Teile zergliedert. Ebenso entwickelte sich der paratextuelle Apparat, welcher zunehmend anspruchsvolle Fußnoten, Kurztitel, Randglossen, Inhaltsverzeichnisse, alphabetische Indexe und die Seitenzahl umfasste. Das gedruckte Buch erbte all diese Neuerungen, einige von ihnen, wie Seitenzahl und Randglossen, mit Schwierigkeiten.28 In der frühen Periode des Drucks scheint sich die Suchmöglichkeit sogar nach hinten zu entwickeln, was darauf hinweist, dass sie kein so bedeutender Imperativ war, wie Autoren wie Kilgour und Eisenstein meinen.

Veränderlichkeit, Verlässlichkeit, Verifizierung

Um die Veränderungen der Suche zu verstehen, ist zu bedenken, dass sich in den letzten Jahrhunderten der Handschriften-Ära auch der soziale Kontext des Buchs veränderte. Sowohl die Produktion als auch die Nutzung ließen die kontrollierten Grenzen des Klosters hinter sich und verbreiteten sich in den weniger geordneten Umgebungen der Städte und Universitäten. Innerhalb des wachsenden Berufsfelds des Buchhandels bildeten sich neue Produktionszentren außerhalb der geschlossenen Skriptorien, während außerhalb der Klosterbibliotheken eine neue Leserschaft entstand. Es war eher in diesem Umfeld, und nicht in der alten klösterlichen Umgebung, dass sich die oben beschriebenen neuen Suchwerkzeuge entwickelten. Doch um über einfache Suchwerkzeuge hinauszugehen und den Suchenden zu helfen, das Gefundene zu beurteilen, mussten sich diese neuen Einrichtungen neuerlich mit der – diesmal von ihnen selbst verursachten – Spannung auseinandersetzen, die auftritt, wenn die zunehmende Mobilität der Texte und der Textproduktion die Stabilität, oder, in Latours Begriffen, die Unveränderlichkeit des Texts bedrohen. Im Zuge der Verbreitung der Buchproduktion und -nutzung kam diese Bedrohung nicht so sehr von den einzelnen, verfallenden Dokumenten, sondern von den Variationen „desselben“ Texts, die im Zuge der Verbreitung von Kopien eingeführt wurden. Diese Möglichkeiten der Änderungen und Verfälschung waren zahlreich. Einerseits gab es legitime Änderungen. St. Bonaventura traf eine berühmt gewordene Unterscheidung zwischen vier Arten des Kopierens. Deren niedrigste war lediglich eine wörtliche Wiederholung des Originals, doch höhere Ebenen der Schreibpraxis erlaubten die Hinzufügung von Kommentaren anderer Autoren, oder des Schreibenden selbst, der schließlich als neuer Autor anerkannt wurde.29 Auf der anderen Seite gab es nicht legitime Änderungen, die manchmal auf Inkompetenz zurück gingen, manchmal aber auch Ausdruck verschiedenster Arten der Fälschung und der Falsifizierung waren. Wie Clanchy zeigt, waren sogar Klöster gezwungen, Fälschungen vorzunehmen, wobei manchmal „falsche Fälschungen“ und manchmal „echte Fälschungen“ hergestellt wurden, eine Unterscheidung, die dieses Thema noch weiter verkompliziert.30

Nach Cavallo und Stock entwickelte sich der Kodex in der westlichen christlichen Kultur in jenem Zeitraum zu einer Form der Autorität, als sich die Produktionszentren verbreiteten und das Lesepublikum anwuchs. Die Veränderlichkeit, die neue Orte und Herstellungsverfahren mit sich brachten, stellten jedoch die potenzielle Autorität des Buches wieder in Frage. Veränderlichkeit – in diesem Fall weniger innerhalb der Kopien als zwischen ihnen – stellt insbesondere für neue Leser eine Herausforderung dar. Denn wenn ein Leser ein Buch zur Hand nimmt, um nach neuen Ideen zu suchen, die Materie aber nicht gut kennt, dann wird er kaum in der Lage sein, die Verlässlichkeit der Information zu beurteilen.31 So kann leicht ein Markt für falsches Wissen entstehen.32 Im Rückblick sieht es so aus, als ob die widersprüchlichen Anforderungen an die Auffindbarkeit von Werken einerseits und die Verlässlichkeit des Gefundenen andererseits zu einer Entwicklung weg von der „freien“ Information, wie man heute sagen würde, hin zu Formen der Informationsbeschränkung führten. In der Welt des Buches wurden mehrere Arten dieser Beschränkung entwickelt.

Eine Lösung stammt aus der islamischen Tradition. Hier wurden Bücher, insbesondere religiöse Bücher, nicht als autonom wahrgenommen. Bücher bezogen ihre Autorität vielmehr von den jeweiligen Lehrern, die ihrerseits durch die „goldene Kette“, die sie mit Mohammed verband, verbürgt waren.33 Anderswo entwickelten Bücher eine inhärentere Autorität, die nicht durch den Text alleine, sondern durch die übergeordneten Institutionen gewährleistet wurde. Auch in diesem Fall bietet Alexandria ein frühes Beispiel. Zenodotos verstand es als Teil seiner Rolle als Bibliothekar, beispielhafte Texte zu produzieren.34 Später war die Kirche bestrebt, ihre Texte zu standardisieren und alle Apokryphen zu eliminieren. Im Zuge dieses Bemühens verbreitete die Kirche auch die karolingische Minuskel als Standardschrift.35 Auch die Universitäten übernahmen die Verantwortung für die textliche Integrität ihrer wichtigsten Werke, zuerst in Byzanz und später in Westeuropa. Im China des 10. Jahrhunderts, wo die Leichtigkeit und mangelnde Haltbarkeit von Druck und Papier direkt mit der Unveränderlichkeit von Stein und dessen Verlässlichkeit verglichen wurde, übernahm die Nationale Akademie die Aufgabe der Qualitätskontrolle.36 Ein ähnlicher Zweischritt lässt sich beim Aufkommen des Drucks im Westen beobachten. Wie Johns ausführt, war die Verlässlichkeit des Texts auch innerhalb von Ausgaben keine Frage des Drucks allein. Hier wie auch anderswo agierte die Institutionalisierung des Verlagswesens als Zentripetalkraft, um eine Verlässlichkeit zu gewährleisten, welche den durch die vermehrte Mobilität der neuen Technologien hervorgerufenen zentrifugalen Tendenzen begegnen sollte.37 Zensur und später Urheberrecht stellten bedeutende Einschränkungen dar, wurden aber damals – und manchmal aus gutem Grund – als Formen der Sicherung verlässlicher Kopien entschuldigt. 38

Eingrenzen und Entgrenzen

Solche Institutionalisierungen trugen dazu bei, den Text innerhalb des Buches konzeptuell zu umschreiben, wobei das Buch sich innerhalb einer Institution wie einer Bibliothek oder einem ähnlichen Autorisierungssystem befand. Wie wir im Falle des Gilgamesch gesehen haben, wirken materielle und institutionelle Einschränkungen, von Zedernholzkisten bis zur Bibliothek von Ninive, jeweils zusammen auf die Schlüsseltexte einer Gesellschaft ein. Dieses Konzept der Umschreibung ist in zwei wichtigen akademischen Begriffen enthalten. Einer dieser Begriffe ist Enzyklopädie, der eingekreiste Wissenskorpus, der für die Bildung ausschlaggebend ist. Der andere Begriff ist die Suche (search) selbst, die – wie die Enzyklopädie – etymologisch von den in den klassischen Sprachen verwendeten Wörtern für „Kreis“ abstammt, und dessen Herkunft auf einen kreisförmig umschlossenen Wissenskorpus hinweist, der untersucht werden muss. Das heißt, die Suche steht nicht nur für die Nadel, sondern auch für den Heuhaufen. Die Vorstellung eines von einem Kreis umschlossenen und durchsuchbaren Korpus impliziert (und entwertet) natürlich einen zweiten Korpus, der als falsch, unecht, ephemer etc. ausgeschlossen wird.39 Wie Chartier bemerkt, ist diese Vorstellung manchen der großen Einrichtungen der Gelehrsamkeit physisch eingeschrieben, etwa in Form der runden Lesesäle großer Nationalbibliotheken (von der Bibliothèque Nationale in Paris und dem alten Lesesaal des British Museum in London zur Library of Congress in Washington und Asplunds großartiger Nationalbibliothek in Stockholm). Diese verweisen auf die Kreise des etablierten Wissens, in denen die Suchenden sicher und verlässlich arbeiten können.40 Doch wie die salons des refusés, die von den Künstlern gebildet wurden, die von den offiziellen Kunstausstellungen in Paris abgelehnt wurden, führten solche Versuche, Information mit Schranken zu versehen, unweigerlich zu weiteren Versuchen, diese Schranken zu durchbrechen. Auch wenn es vielleicht Zufall ist, so ist es doch bezeichnend, dass Wikipedia den Wortteil pedia beibehalten hat, aber den Wortteil Encyclo-, der auf den kreisförmigen Einschluss hindeutet, ablehnte. Zumindest symbolisch drückt dies einen Wunsch aus, nicht im Stile der Vergangenheit eingekreist zu werden, sondern sich immer weiter zu öffnen.41 Wie ich zu sagen versucht habe, ist dieser Versuch alles andere als neu. Der Weg zur Offenheit ist vielleicht sogar eher zyklisch als linear. Versuche, im Namen der Freiheit auszubrechen, führen zu anderen Versuchen, Einschränkungen im Namen der Qualität einzuführen, was in der Folge zu neuerlichen Ausbruchsversuchen führt. Ein weiterer unbekümmerter Ausflug, diesmal zu den Veränderungen, die sich in England am Ende des 17. Jahrhunderts ereigneten, sollte es ermöglichen, eine Reihe von davor äußerst wichtigen Versuchen darzustellen, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eingeführte Suchgrenzen zu brechen.

Habermas behandelt in seiner Darstellung der Entwicklung einer „Öffentlichkeit“ die Veränderungen der Politik. 42 In der wachsenden Bourgeoisie setzte sich die Auffassung durch, dass die besten politischen Entscheidungen dann getroffen werden könnten, wenn Bürger ihre persönlichen Partikularinteressen hinter sich lassen und in einen offenen Diskussionsraum eintreten würden. Die Suche nach politischen Lösungen richtete sich nun nicht mehr an den Monarchen, um von diesem Antworten zu erhalten, sondern setzt stattdessen auf freies Fragen, rationale Debatten und den offenen Austausch von Informationen. Diese Art der Suche konnte nicht mehr zu einer vorbestimmten Antwort führen, sondern vielmehr, wie es bei der amerikanischen Revolution der Fall war, zu Einsichten, die man sich vorher nicht vorstellte oder nicht vorstellen konnte – zu Antworten, die in gewisser Weise eine Eigenschaft des Suchverfahrens selbst sind. Damit ging es bei dieser Suche – anders als beim sokratischen Dialog – nicht mehr darum, eine Antwort zu enthüllen, die der Gesprächspartner schon kennt aber nicht wahrnimmt, es ging aber auch nicht mehr darum, auf etwas zurückzukommen, das bereits niedergeschrieben und entdeckt wurde, so wie dies bei scholastischen und religiösen Formen des Fragens der Fall war. Es ging darum, etwas zu finden, von dem man bisher nichts wusste, und was dem Wissen vielleicht gar nicht zugänglich war.43 Zur selben Zeit entstand mit den Aktienmärkten ein vergleichbarer Vorgang im Bereich des Handels. Die Suche nach Aktienpreisen und damit dem Wert von Firmen stellte eben diesen Wert im Zuge des Handelns selbst her. Bis dahin war der Preis unbekannt, er zeigte sich erst im Zuge der ökonomischen Tätigkeit des Marktes. In ähnlicher Weise vertraten die Verfechter des Freihandels im Gegensatz zu den Merkantilisten die Auffassung, dass der Wert einer Nation als Ganzes nur durch offenen Handel bestimmt werden könne, nicht durch das Ansammeln (und Zählen) von Goldreserven. Und schließlich kann man auch in der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts die Ablehnung früherer Autoritäten und die Entwicklung eines ähnlichen Suchverfahrens mit offenem Ausgang beobachten. Galileo, Descartes, Boyle, Hooke, Huygens und die anderen empirischen Wissenschaftler der Frühmoderne, befragten die Natur mit sonderbaren Geräten und Suchen mit offenem Ausgang, zum Entsetzen anderer Zeitgenossen vom Papst bis Thomas Hobbes. Die Wissenschaft war nicht mehr ein Ort der scholastischen Figuren und ihrer alten Bücher, sondern ein offener Frageprozess, der sich nicht von Institutionen und behauptetem Expertenwissen beeindrucken ließ. Wie schon Chaucers Wife of Bath in einer bekannt gewordenen Äußerung festhielt, ist die Erfahrung, und nicht die Autorität, die Währung des wissenschaftlichen Bemühens.

Diese ungewöhnlichen Revolutionen durchbrachen viele der früher existierenden Schranken der Suche und wiesen den Weg in eine offene Landschaft, wobei sich der Wunsch nach individueller Freiheit und die Ablehnung von existierenden Institutionen und deren Wissenshierarchien artikulierten. Die Geschichte endet aber nicht hier. Die Öffentlichkeit, so Habermas, wurde verändert und den bürgerlichen Interessen untergeordnet. Es erforderte institutionelle Innovationen und Experimente mit verschiedenen Arten der Demokratie, um die Vorstellung der Offenheit selbst zu erhalten, denn die bestehenden Institutionen hatten die Aufgabe, Offenheit zu bekämpfen. In ähnlicher Weise erfuhr die Entwicklung der Märkte und des Freihandels mit der Südsee-Blase und der Tulpenmanie die ersten globalen Schocks. Wie die Öffentlichkeit so hatten sich auch die Märkte auf institutionelle Strukturen gestützt, welche die Idee des freien Markts und einer offenen Suche nach Wert verachteten. Die meisten Märkte erfordern nach wie vor institutionelle Interventionen und Justierungen, um sicherzustellen, dass die Preise eher offen als fest sind. Und wie Shapin und andere gezeigt haben, institutionalisierte sich auch die Wissenschaft allmählich. 44 Im Laufe der Zeit wurde die Royal Society und ihre ungewöhnlich offene Publikation Philosophical Transactions immer geschlossener. Während Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einerseits einen beachtlichen Ehrgeiz in Richtung Freiheit und Offenheit entwickelten, bauten sie andererseits kreisförmige Wagenburgen und beschränkten die legitime Suche auf bestimmte Vorhaben, Methoden und Fragen, wobei andere als inakzeptabel ausgeschlossen wurden. Abweichende Stimmen wurden in den Bereich der Alchemie, des Überkommenen, des Kabbalismus, der Zauberei etc. verwiesen. Es fällt auf, dass viele der wichtigen Eingrenzungs-Institutionen – von der modernen Zeitung, der Bank of England, der Royal Society bis hin zur modernen Enzyklopädie – etwa zur selben Zeit entstanden wie diese drei Revolutionen der Suche, und wohl eine Antwort auf diese darstellten. Und ein Großteil des Erfolgs ihrer Suche ging auf die Beschränkungen zurück, denen sie unterlagen. Es ist daher wenig überraschend, dass in den folgenden Jahrhunderten neue Versuche unternommen wurden, restriktive Beschränkungen zu überwinden und neue Gegenbewegungen entstanden, die unstrukturiertes Verhalten erlaubten. Zwangsläufig wurden manche der neuen Beschränkungen von den rückwärtsgewandten Kräften durchgesetzt, etwa im Zuge der Reaktion der katholischen Kirche auf Galileo. Manche, aber nicht alle. Andere beinhalteten den Aufbau von Weberschen Institutionen, um die Voraussetzungen für den Habermasschen Idealdiskurs zu schaffen, oder für Hayeksche Märkte, oder für die offene Wissenschaft und ihre Suche nach Antworten. Nehmen wir uns ein letztes Beispiel aus einem Bereich vor, der viele machtvolle Suchwerkzeuge geschaffen hat, nämlich das Recht.45 Das Common Law ist in vielfacher Weise ein archetypisches offenes System, das im Laufe der Zeit durch die Entwicklung des statutarischen Gesetzes zunehmend geschlossen wurde. Zyklen der Offenheit und der Geschlossenheit sind zum Beispiel in der Entwicklung der Rechtsberichte erkennbar. Mit diesen wurden bedeutende Rechtsfälle veröffentlicht, welche von den Gerichten und den Streitparteien als Präzedenzfälle herangezogen wurden. Am Beginn des 19. Jahrhunderts führten neue Drucktechnologien und in der Folge sinkende Publikationskosten zu einem lebhaften Markt für Rechtsberichte. Die Law Amendement Society bemerkte damals, dass „es schon lange ein praktisches Arrangement für Rechtsvertreter und Buchhändler ist, sich aus Gründen der Bekanntheit und des Gewinns zusammen zu schließen und die bestehende Liste der Rechtsberichte zu erweitern“. Diese Erweiterung, so bemerkte die History and Origin of the Law Reports in der Mitte des Jahrhunderts, war eine Folge der „Anwendung des Wettbewerbsprinzips, um die Übel der Weitschweifigkeit, der Verzögerung, und der Kostspieligkeit zu korrigieren, die dem [alten] System der autorisierten Berichterstattung anhafteten“. Dieser Prozess könnte aus heutiger Sicht als „Öffnung“ des Rechtsberichterstattungswesens beschrieben werden, bei der sich der Markt entfalten darf und die besseren Publikationen an die Spitze gelangen. Doch solche Wissensmärkte tun oft genau das Gegenteil. Die Berichte wurden immer mehr, und da es keine institutionellen Standards für sie gab, nahm die Sorge der Rechtsanwälte und Richter um die Verlässlichkeit der Berichte zu. So wurden zwar alte Beschränkungen durchbrochen, diese Veränderung führte aber ihrerseits zu „neuen Übeln, [die] Verwirrung und Ungewissheit im Recht herbeiführten“. Offener Wettbewerb, dem im 19. Jahrhundert ebenso das Wort gesprochen wurde wie heute, diente den Interessen einzelner Rechtsanwälte und Verleger, die die Produktion von Rechtsliteratur ankurbeln wollten. Diese machte aber die Suche und die Beurteilung des Gefundenen zunehmend problematisch, denn sie wurde „ohne Bedachtnahme auf die Interessen des Berufsstandes oder der Öffentlichkeit“ durchgeführt und verursachte „Ratlosigkeit in der Rechtsverwaltung“.46 In einem Versuch, die miteinander unverträglichen Interessen auszugleichen, gelang es der Law Amendment Society, einer Reformorganisation, das System zu institutionalisieren und den unkontrollierten Vertrieb der Berichte zu unterbinden, ohne die Innovation in der Berichterstattung völlig zu unterdrücken. Solche Prozesse sind jedoch nach wie vor zyklisch. Neue Technologien haben das System wieder geöffnet, und dementsprechend hören sich vorausschauende Rechtsanwälte heute oft an wie ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert: „Die Ansicht der meisten Richter in England ist, dass zu viel, nicht zu wenig berichtet wird“.47

Jenseits der 2 Gs

Wenn man sich moderne Suchwerkzeuge ansieht, kommt man leicht zur Auffassung, dass sie Teil einer geschichtlichen Entwicklung sind, die von geschlossenen und restriktiven Institutionen weg und hin zu mehr demokratischer Offenheit führt, und dass das Anhäufen von Information, unabhängig von deren Quelle, und ihre Durchsuchung mit grep-ähnlichen Technologien von Natur aus etwas Gutes sind. Von ihren Ursprüngen in der Open-Source-Bewegung ausgehend, ist diese neue Idee der Offenheit heute in die Politik, die Märkte, die Wissenschaft und die kulturelle Arbeit vorgedrungen. Sich gegen sie auszusprechen, scheint hoffnungslos reaktionär. Wie ich jedoch hier versucht habe zu zeigen, sind Bestrebungen, eine Struktur durchzusetzen, nicht immer gleich Bestrebungen, uns in die Vergangenheit zurück zu befördern. Sie sind häufig (aber eben auch nicht immer) Versuche, etwas zu kontrollieren, was – wie die Rechtsberichte des 19. Jahrhunderts – zu unverwaltbarer Information geworden ist. Solche Information führt die Suche in die Irre, nicht weil sie resistent gegen Suchalgorithmen ist, sondern weil sie in keiner offen zugänglichen Weise strukturiert ist, weshalb die Suchergebnisse für jene, die mit ihnen arbeiten wollen, unverständlich oder unverlässlich sind. Es ist einfach anzunehmen, neue Technologien würden alte Institutionen ersetzen. Oft begegnet man dem Glauben, Google würde an die Stelle der Bibliotheken treten. Doch Technologien und Institutionen sind nicht das gleiche. Technik ist oft nicht in der Lage, eine sinnvolle Struktur durchzusetzen und die Verlässlichkeit zu erhöhen, sondern erfordert begleitende Institutionen, die offen sind und öffentlich überprüft werden können. Wie ich zu zeigen versucht habe, sieht eine Geschichte des Suchens daher weniger wie ein linearer Verlauf aus, der von einem angeborenen Drang nach Informationssammlung vorangetrieben wird, sondern eher wie eine Reihe von fast unergründlichen Zyklen um offene und geschlossene Strukturen.

In der Tat – und hier entschuldige ich mich bei allen, die mir bis hier gefolgt sind, dass ich dies so spät sage – können wir diese zyklischen Bewegungen erkennen, ohne eine mühsame historische Reise zu unternehmen. Wikipedia zum Beispiel, die vielen als Beispiel einer Sammlung von offener, durchsuchbarer und verlässlicher Information über die Welt gilt, widmet sich seit einiger Zeit dem Aufbau von Strukturen. Ihr früheres Misstrauen gegenüber verbürgtem Expertenwissen und ihr Widerstand gegen hierarchische Ausschlüsse sind einem Verständnis gewichen, wonach behauptete Erfahrung nicht notwendigerweise besser ist als erworbene Autorität. Wikipedia hat sogar selbst begonnen, über ihre Stiftung eine institutionelle Struktur aufzubauen, was zwangsläufig die Offenheit des Projekts einschränkt.48 Implizit beginnt der Wortteil Encyclo- wieder die pedia zu umhegen. Eine noch interessantere Entwicklung ist, dass Google Wikipedia mit seinem Knol-Projekt herausfordert, welches wesentlich mehr auf Institutionen und ihre Rolle in der Wissensproduktion, der Informationssammlung und der hierarchischen Ordnung von Ideen setzt. Gleichzeitig wird Googles technisch ausgerichtetes Bibliotheksprojekt angesichts von Zweifeln an seiner Qualität vom Hati Trust eingezäunt. In diesem Fall werden Versuche, die Suche verlässlicher zu machen, von einer der ältesten gegenwärtig existierenden Institutionen gebremst, nämlich der Universität.49



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