Im Gedenken an Joseph Weizenbaum
Ein Gespenst geht um unter den intellektuellen Eliten der Welt: Informationsüberlastung. Das gemeine Volk hat sich strategische Ressourcen unter den Nagel gerissen und verstopft einst sorgfältig überwachte Medienkanäle. Vor dem Internet beruhte die Macht der Mandarinklasse auf der Idee, dass man „Geschwätz“ von „Wissen“ trennen könne. Mit dem Aufstieg von Internetsuchmaschinen ist es jedoch nicht mehr möglich, zwischen patrizischen Einsichten und plebejischem Tratsch zu unterscheiden. Die Trennung von high und low, dem Ernsten und dem Trivialen, und ihre Vermischung zu Zeiten des Karnevals stammen aus vergangenen Zeiten. Sie sollten uns nicht weiter beunruhigen. Heute gibt ein völlig neues Phänomen Anlass zur Sorge: Die Listen der Suchmaschinen gehorchen dem Gebot der Popularität, nicht der Wahrheit. Zu suchen bestimmt heute unser Leben. Mit dem dramatischen Anwachsen aufrufbarer Information sind wir von Werkzeugen der Informationsgewinnung abhängig geworden. Wir suchen nach Telefonnummern, Adressen, Öffnungszeiten, Namen von Personen, Flugdaten und Schnäppchen. Und wenn uns das rasend macht, deklarieren wir den stetig wachsenden Berg grauer Materie als „Datenmüll“. Bald werden wir uns darin nur noch verlieren, wenn wir suchen. Die alten Hierarchien der Kommunikation sind nicht nur implodiert, die Kommunikation selbst hat eine Form angenommen, die einem Angriff auf das zerebrale System gleichkommt. Nicht nur ist das Rauschen des Populären zu unerträglicher Lautstärke angeschwollen, wir haben auch nicht mehr die Kraft, noch eine weitere Anfrage wichtiger Kollegen zu beantworten. Selbst freundliche Grüße von Freunden und Verwandten sind mit der lästigen Erwartung verbunden, beantwortet zu werden. Was die gebildeten Klassen aber am meisten beschäftigt, ist die Tatsache, dass das Geplapper die bis dahin geschützten Bereiche von Wissenschaft und Philosophie erreicht hat, während man sich eigentlich Sorgen darüber machen müsste, wer das zunehmend zentralisierte Computernetz kontrolliert.
Was die heutigen Administratoren nobler Einfachheit und ruhiger Erhabenheit nicht sagen können, sollten wir an ihrer Stelle aussprechen: Es herrscht wachsende Unzufriedenheit mit Google und der Art und Weise, wie im Internet Informationsgewinnung organisiert wird. Das wissenschaftliche Establishment hat die Kontrolle über eines seiner Schlüsselprojekte verloren – das Design und die Eigentümerschaft der Computernetze, die heute von Milliarden von Menschen benutzt werden. Wie kam es dazu, dass so viele Menschen von einer einzigen Suchmaschine abhängig wurden? Warum wiederholt sich die Microsoft-Geschichte? Es erscheint langweilig, über ein Monopol zu klagen, wo der durchschnittliche Nutzer über eine Vielzahl von Werkzeugen verfügt, um Macht zu verteilen. Eine Möglichkeit, wie diese missliche Lage überwunden werden kann, besteht darin, das Heideggersche „Gerede“ neu und positiv zu definieren. An die Stelle einer Kultur der Klage, die von einem ungestörten Leben offline und radikalen Maßnahmen träumt, das Rauschen zu filtern, sollte die offene Auseinandersetzung mit den heutigen trivialen Formen des „Daseins“ in Blogs, SMS und Computerspielen treten. Intellektuelle sollten Netznutzer nicht länger als sekundäre Amateure zeichnen, die von einem primären und ursprünglichen Verhältnis zur Welt abgeschnitten sind. Eine wichtigere Angelegenheit steht auf dem Spiel: Es gilt, sich auf die Politik des informationellen Lebens einzulassen. Es ist an der Zeit, das Aufkommen eines neuen Unternehmenstyps anzusprechen, der das Internet rapide transzendiert: Google.
Das World Wide Web, das Borges’ unendliche Bibliothek wahrmachen sollte, wie er sie in seiner Kurzgeschichte Die Bibliothek von Babel (1941) beschrieben hat, wird heute von vielen Kritikern als bloße Variation von Orwells Big Brother (1948) betrachtet. Der Herrscher hat sich dabei von einem bösen Monster in eine Versammlung cooler Jugendlicher verwandelt, deren Vorstellung unternehmerischer Verantwortung sich im Motto Don’t be evil manifestiert. Angeleitet von einer älteren und erfahrenen Generation von IT-Gurus (Eric Schmidt), Internetpionieren (Vint Cerf) und Ökonomen (Hal Varian), ist Google so schnell und auf so vielfältigen Feldern gewachsen, dass es keinen Kritiker, Akademiker oder Wirtschaftsjournalisten gibt, der hätte Schritt halten können. Neue Anwendungen und Dienste stapeln sich regelmäßig wie ungewollte Weihnachtsgeschenke übereinander. Dazu zählen etwa Googles freier E-Mail-Dienst Gmail, die Videoplattform YouTube, das soziale Netzwerk Orkut, Google Maps und Google Earth, seine Haupteinnahmequelle AdWords mit seinen Anzeigen, die per Klick bezahlt werden, sowie Büroanwendungen wie Calendar, Talks und Docs. Google steht nicht nur mit Microsoft und Yahoo im Wettbewerb, sondern durch sein ambitioniertes Programm des Einlesens von Büchern in großer Zahl auch mit öffentlichen Bibliotheken und Unternehmen der Unterhaltungsindustrie und der Telekommunikation. Das Google Phone soll demnächst auf den Markt kommen. Vor kurzem hörte ich ein weniger computeraffines Familienmitglied sagen, es habe gehört, Google sei viel besser und einfacher zu benutzen als das Internet. Das hörte sich niedlich an, stimmt aber. Google ist nicht nur das bessere Internet geworden, es übernimmt Aufgaben der Software des Heimcomputers, so dass eigene Daten von jedem Terminal oder mobilen Gerät jederzeit abgerufen werden können. Apples MacBook Air ist ein weiteres Indiz für die zunehmende Migration von Daten in von privater Hand kontrollierte Datenbanken. Sicherheit und Datenschutz werden zur neuen Ökonomie und Technologie der Kontrolle. Die Mehrzahl der Nutzer und auch Unternehmen scheint froh darüber zu sein, die Macht zur Steuerung der eigenen Informationsressourcen aufgeben zu können.
Inseln der Vernunft
Mein Interesse an den Konzepten hinter den Suchmaschinen erwachte von neuem, als ich ein Buch mit Interviews des MIT-Professors und Computerkritikers Joseph Weizenbaum las, der berühmt ist für sein automatisches Therapieprogramm Eliza von 1966 und sein Buch Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft von 1976. Weizenbaum starb am 5. März 2008 im Alter von 84 Jahren. Einige Jahre zuvor war Weizenbaum von Boston zurück nach Berlin gezogen, in die Stadt, in der er aufgewachsen war, bevor er 1935 mit seinen Eltern vor den Nazis floh. Die Interviews hat die Münchner Journalistin Gunna Wendt geführt. Einige Rezensenten auf Amazon beschwerten sich über Wendts unkritische Fragen und den freundlichen und oberflächlichen Charakter ihrer eigenen Beiträge. Ich genoss die Einsichten eines der wenigen Kritiker der Computerwissenschaft, der als Insider spricht. Besonders interessant sind Weizenbaums Geschichten über seine Jugend in Berlin, das Exil in den USA und darüber, wie er in den Fünfzigern mit dem Computer in Berührung kam. Das Buch liest sich wie die Summe der Weizenbaumschen Kritik am Computer, nämlich daran, dass der Computer seinen Nutzern einen mechanistischen Blickwinkel aufzwingt. Was mich besonders interessiert hat, war die Art und Weise, wie Weizenbaum seine Argumente als informierter und respektierter Insider entwickelt – eine Position, die der „Netzkritik“ ähnelt, die ich mit Pit Schultz im Nettime-Projekt entwickelt habe.
Der Titel und der Untertitel des Buches klingen faszinierend: Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft. Weizenbaums Glaubenssystem kann man wie folgt zusammenfassen: „Nicht alle Aspekte der Realität sind berechenbar.“ Weizenbaums Netzkritik ist eine generelle. Er vermeidet es, spezifisch zu werden, und wir müssen das akzeptieren. Seine Bemerkungen zum Internet sind für all jene nichts Neues, denen Weizenbaums Werk bekannt ist: Das Netz ist ein Müllhaufen, ein Massenmedium, das zu 95 Prozent aus Unsinn besteht, und so dem Fernsehen sehr ähnlich, dem sich das Netz unvermeidlich annähert. Die sogenannte „Informationsrevolution“ hat sich in eine Flut von Desinformation verkehrt. Der Grund hierfür ist die Abwesenheit eines Redakteurs und überhaupt eines editorischen Prinzips. Das Buch gibt keine Antwort darauf, warum dieses entscheidende Medienprinzip nicht von den ersten Generationen von Computerprogrammierern eingebaut wurde, zu denen Weizenbaum als prominentes Mitglied zählt. Die Antwort liegt vermutlich darin, dass der Computer ursprünglich als Recheninstrument eingesetzt wurde. Die Technodeterministen in der Berliner Sophienstraße und anderswo beharren darauf, dass die mathematische Berechnung die Essenz des Computers ausmacht. Der Ge- oder Missbrauch des Computers für mediale Zwecke war von den Mathematikern nicht vorausgesehen worden, und für die heutige Plumpheit der Schnittstellen und des Informationsmanagements sollten nicht diejenigen verantwortlich gemacht werden, die die ersten Rechner entwarfen. Der Computer war einst eine Kriegsmaschine, daher wird es ein langer Weg sein, den digitalen Rechner in ein universelles menschliches Instrument zu verwandeln, das unseren reichen und diversen Informations- und Kommunikationsabsichten dient.
Bei verschiedenen Gelegenheiten habe ich eine Kritik der „Medienökologie“ formuliert, die „nützliche“ Informationen für den individuellen Konsum filtern möchte. Hubert Dreyfus ist hier mit seinem Text On the Internet (2001) einer der Hauptschuldigen. Ich glaube nicht, dass es einem Professor, Redakteur oder Programmierer ansteht, für uns zu entscheiden, was Nonsens ist und was nicht. Der Versuch einer solchen Entscheidung sollte von verschiedenen Seiten in Angriff genommen werden und in einer Kultur eingebettet sein, die Meinungsunterschiede ermöglicht und respektiert. Wir sollten diesen Reichtum rühmen und neue Suchtechniken zu einem Teil unserer Kultur machen. Ein Weg dahin könnte über die weitere Revolutionierung der Suchwerkzeuge und die Anhebung der allgemeinen Medienkompetenz führen. Wenn wir einen Buchladen oder eine Bibliothek betreten, dann hat uns unsere Kultur gelehrt, wie man sich in tausenden von Titeln zurechtfindet. Anstatt uns beim Bibliothekar zu beschweren oder die Ladeninhaber zu benachrichtigen, dass sie zu viele Bücher führen, bitten wir um Hilfe oder versuchen, das Problem selbst zu lösen. Weizenbaum wünschte sich, dass wir dem, was wir auf unserem Bildschirm sehen, misstrauen – komme es aus dem Netz oder aus dem Fernsehen. Weizenbaum kann uns aber nicht sagen, wer uns den Ratschlag erteilen soll, wem wir vertrauen können, ob etwas nützlich ist oder nicht, und welchen der Informationen, die wir aufrufen, wir den Vorzug geben sollen. Die Rolle des Vermittlers wird also geopfert, um einen generellen Verdacht kultivieren zu können.
Vergessen wir Weizenbaums Infoangst. Was seine Interviews so interessant macht, ist Weizenbaums Beharren auf der Kunst, die richtige Frage zu stellen. Er warnt vor einem unkritischen Gebrauch des Wortes „Information“. „Die Signale im Computer sind keine Informationen. Es sind ,nur‘ Signale. Und es gibt nur einen Weg, aus Signalen Informationen zu machen, nämlich die Signale zu interpretieren.“ Hierfür sind wir auf die Arbeit des menschlichen Gehirns angewiesen. Das Problem des Internet ist laut Weizenbaum, dass es uns dazu einlädt, es wie das Orakel von Delphi zu betrachten. Das Internet wird uns die Antworten auf all unsere Fragen und Probleme schon liefern. Das Netz ist aber kein Verkaufsautomat, in den man Geld einwirft und daraufhin das Gewünschte erhält. Der Schlüssel ist eine angemessene Erziehung, die es uns ermöglicht, die richtige Suchanfrage zu formulieren. Alles dreht sich also um die Frage, wie man sich in die Lage versetzt, die richtige Frage zu stellen. Dafür braucht es Erziehung und Expertise. Man erreicht aber nicht den Standard einer höheren Erziehung, indem man die Möglichkeiten verbessert, publizieren zu können. Weizenbaum: „Die Möglichkeit, dass jeder etwas ins Internet stellen kann, bedeutet noch nicht sehr viel. Das willkürliche Hineinwerfen bringt genauso wenig wie das willkürliche Fischen.“ In diesem Zusammenhang vergleicht Weizenbaum das Internet mit dem CB-Funk. Kommunikation allein wird nicht zu nützlichem und nachhaltigem Wissen führen.
Weizenbaum setzt den unwidersprochenen Glauben an (Suchmaschinen-) Anfragen in Verbindung mit dem Aufkommen des „Problem“-Diskurses. Computer wurden als „allgemeine Problemlöser“ entwickelt, und ihre Aufgabe war es, Lösungen für jedwedes Problem zu finden. Die Leute wurden aufgefordert, ihr Leben an den Computer zu delegieren. „Wir haben ein Problem“, sagt Weizenbaum, „und das Problem verlangt nach einer Antwort.“ Aber persönliche und soziale Spannungen können nicht gelöst werden, indem ein Problem benannt wird. Was wir statt Google und Wikipedia brauchen, ist „die Kompetenz, zu hinterfragen und kritisch zu denken“. Weizenbaum erklärt das mit einem Verweis auf den Unterschied zwischen Hören und Zuhören. Ein kritisches Verständnis erfordert, dass wir uns zuerst einmal hinsetzen und zuhören. Dann müssen wir lesen, statt nur zu entziffern, und lernen, zu interpretieren und zu verstehen.
Wie zu erwarten, wird das sogenannte Web 3.0 als technokratische Antwort auf Weizenbaums Kritik angepriesen. Anstelle der Algorithmen von Google, die auf Stichwörtern basieren, und von Ergebnissen, denen die Erstellung von Ranglisten zugrunde liegt, werden wir der nächsten Generation von Suchmaschinen wie Powerset, die „natürliche Sprache“ verstehen, bald Fragen stellen können. Wir können aber bereits jetzt davon ausgehen, dass Computerlinguisten den Ansatz von Problem und Antwort nicht hinterfragen werden. Sie werden nur zögerlich die Rolle einer „Inhaltspolizei“ übernehmen, die entscheidet, was im Internet Mist ist und was nicht. Dasselbe gilt für die Initiativen, die sich dem Semantic Web und ähnlichen Technologien der Künstlichen Intelligenz verschrieben haben. So stecken wir fest in der Ära der Informationsgewinnung via Web. Während das Paradigma von Google in der Analyse von Links und den Ranglisten von Seiten besteht, werden die Suchmaschinen der nächsten Generation zum Beispiel Bilder indizieren. Nun aber nicht mehr mittels digitaler Etiketten, die Nutzer diesen Bildern anhängen, sondern aufgrund der spezifischen „Qualitäten“ der Bilder selbst. Willkommen in der Hierarchisierung des Realen. Die kommenden Computerhandbücher werden Programmierfreaks Einführungskurse in Ästhetik geben. Hobbyphotographen, die zu Programmierern geworden sind, werden die neuen Agenten des schlechten Geschmacks sein.
Seit dem Aufkommen der Suchmaschinen in den Neunzigern leben wir in der „Gesellschaft der Suchanfrage“, die sich nicht sehr stark von Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ unterscheidet, deutet Weizenbaum an. Diese Situationsanalyse aus den späten Sechzigern basierte auf dem Aufstieg der Film-, Fernseh- und PR-Industrien. Der wichtigste Unterschied zur heutigen Situation besteht darin, dass wir ausdrücklich zur Interaktion aufgefordert sind. Wir werden nicht mehr als anonyme Masse passiver Konsumenten angesprochen. Stattdessen sind wir „dezentrale Akteure“ geworden, die auf einer Vielzahl von Kanälen präsent sind. Debords Kritik der Kommodifizierung ist nicht mehr revolutionär. Der Genuss, sich dem Konsum hinzugeben, ist so weit verbreitet, dass er den Status eines universellen Menschenrechts erlangt hat. Wir alle lieben den Fetisch der Ware und schwelgen im Glanz, den die globale celebrity-Klasse für uns auf die Bühne bringt. Es gibt keine soziale Bewegung oder kulturelle Praxis, wie radikal auch immer, die der Warenlogik entkommen kann. Es wurde noch keine Strategie für das Leben im Zeitalter des Postspektakels ausgearbeitet. Stattdessen sorgt man sich um unsere Privatsphäre oder das, was noch davon übriggeblieben ist. Die Fähigkeit des Kapitalismus, Gegnerschaft zu absorbieren, ist so umfassend, dass es kaum mehr möglich ist, überhaupt Argumente für die Notwendigkeit von Kritik – in diesem Fall des Internet – zu finden, es sei denn, all unsere privaten Telefongespräche und übers Netz kommunizierten Botschaften würden öffentlich gemacht. Selbst dann fiele es schwer, gute Argumente für eine Kritik zu finden, und sei es in Gestalt einer organisierten Beschwerde von Verbraucherlobbyisten. Stellen wir uns vor, es gäbe diese „Aktionärsdemokratie“. Nur dann würde das sensible Thema der Privatsphäre zu einem Katalysator für ein wachsendes Bewusstsein von den Interessen der Unternehmen werden; dennoch wären die Teilnehmer dieser Bewegung weiterhin begrenzt. Die Zugehörigkeit zu den aktienbesitzenden „Massen“ ist auf die Mittelklasse und die sozialen Schichten beschränkt, die über ihr angesiedelt sind. Das aber verstärkt nur die Notwendigkeit einer lebendigen und facettenreichen Öffentlichkeit, in der weder staatliche Überwachung noch Marktinteressen den Ton angeben.
Profilkontrolle
Bereits im Jahr 2005 veröffentlichte der Präsident der französischen Bibliothèque Nationale, Jean-Noël Jeanneney, ein kleines Buch, in dem er vor Googles Anspruch warnte, „die Informationen der Welt zu organisieren“. Es ist nicht an einer einzigen privaten Unternehmung, eine solche Rolle anzunehmen. Googles Herausforderung bleibt eines der wenigen Dokumente, das offen Googles sonst unbestrittene Hegemonie herausfordert. Jeanneney befasst sich nur mit einem spezifischen Projekt: BookSearch, das darauf abzielt, Millionen von Büchern aus amerikanischen Bibliotheken zu digitalisieren. Jeanneneys Argument ist ein sehr französisch-europäisches: Weil die Auswahl der betreffenden Bücher durch Google sehr unsystematisch ist und keinerlei editorischen Prinzipien folgt, wird das so entstehende Archiv die Giganten der nationalen Literaturen wie Hugo, Cervantes oder Goethe nicht richtig repräsentieren. Wegen seiner Tendenz, sich auf englische Quellen zu stützen, wird Google nicht der adäquate Partner sein, um ein Archiv des Weltkulturerbes aufzubauen. „Die Wahl der zu digitalisierenden Bücher wird von der angelsächsischen Atmosphäre geleitet sein“, schreibt Jeanneney. Für sich genommen ist das zwar ein legitimes Argument. Allerdings ist es gar nicht Googles eigentliches Interesse, ein online abrufbares Archiv zu erstellen und zu verwalten. Google leidet an Datenfettsucht und ist gegenüber Aufforderungen zu sorgfältiger Aufbewahrung von Daten indifferent. Es wäre naiv, von Google kulturelles Bewusstsein zu erwarten. Das primäre Interesse Googles an diesem zynischen Unternehmen besteht darin, das Verhalten von Nutzern zu beobachten, um Verbindungsdaten und -profile an interessierte Dritte zu verkaufen. Google geht es nicht um das Eigentum an Émile Zola. Seine Absicht besteht eher darin, den Proust-Fan vom Archiv wegzulocken. Vielleicht besteht Interesse an einer coolen Stendhal-Tasse, dem Flaubert-T-Shirt in XXL oder einem Sartre-Kauf bei Amazon. Für Google sind Balzacs gesammelte Werke abstrakter Datenmüll, ein Rohstoff, dessen einziger Sinn darin besteht, Profit zu generieren, während sie für die Franzosen die Epiphanie ihrer Sprache und Kultur darstellen. Es bleibt eine offene Frage, ob die europäische Antwort auf Google, die Multimediasuchmaschine Quaero, jemals in Betrieb gehen wird – ganz abgesehen davon, ob sie dann Jeanneneys Werte verkörpert. Wenn Quaero lanciert werden wird, wird der Markt der Suchmaschinen im Zugriff auf neue Medien und Geräte bereits eine Generation voraus sein. Manche kommen daher zur Einschätzung, Herrn Chirac sei es dabei mehr um den Stolz der Franzosen als um die Weiterentwicklung des Internet gegangen.1
Es vergeht keine Woche mehr, in der Google nicht eine neue Initiative in die Welt setzt. Selbst für Kenner des Unternehmens ist es beinahe unmöglich, diese Projekte nachzuvollziehen oder gar einen höheren Plan hinter ihnen zu entdecken. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes im April 2008 ist etwa Googles neue App Engine zu nennen, „ein Entwicklungswerkzeug, das es Ihnen ermöglicht, Ihre Webanwendungen auf Googles Infrastruktur laufen zu lassen“. Google App Engine ist ein perfektes Beispiel dafür, wie ein Unternehmen, das die entscheidende Infrastruktur von heute besitzt, noch mehr Macht konzentrieren kann. App Engine wird es jungen Unternehmen erlauben, Googles Webserver, Programmierschnittstellen und andere Entwicklungswerkzeuge als primäre Architektur zur Erstellung neuer Webanwendungen zu nutzen. Richard MacManus hat dazu bemerkt: „Google ist groß genug und besitzt die nötige Intelligenz, um diese Plattform als Dienstleistung anzubieten. Trotzdem stellt sich die Frage: Warum sollte ein Start-up die Kontrolle abgeben und sich damit in Abhängigkeit eines großen Internetunternehmens begeben?“ Die Bereitstellung von Programminfrastrukturen wird zunehmend von Dienstprogrammen geleistet, Google App Engine ist ein weiteres Beispiel für diese Entwicklung. MacManus schließt mit einer rhetorischen Frage: „Würden Sie gerne Google die Kontrolle über Ihre gesamte Systementwicklungsumgebung überlassen? War es nicht genau das, wovor sich Entwickler bei Microsoft gefürchtet haben?“ Die Antwort ist einfach: Es ist der gar nicht so geheime Wunsch der Entwickler, von Google gekauft zu werden. Millionen von Nutzern nehmen, willentlich oder nicht, an diesem Prozess teil, indem sie Unternehmen Einblick in ihre Profile gewähren und ihnen Aufmerksamkeit, die Währung des Internet, schenken. Google hatte auch eine Technologie patentieren lassen, die die Möglichkeiten steigert, seine Nutzer „zu lesen“. Man will das Verhalten eines Nutzers beobachten, der eine Webseite aufgerufen hat, um herauszufinden, an welchen Regionen und Themen der Seite er Interesse zeigt. Das ist nur ein Beispiel für die multiplen analytischen Techniken, die dieses Medienunternehmen entwickelt, um Nutzerverhalten zu studieren und kommerziell zu verwenden.
Qualität braucht Zeit
Es ist kaum überraschend, dass die schärfsten Kritiker Googles Nordamerikaner sind. Bis jetzt haben die Europäer erstaunlich wenig Ressourcen in die konzeptionelle Erforschung und Kartierung der neuen Medienkultur investiert. Die EU zeigt sich bestenfalls als erster Anwender von technischen Standards und Produkten, die anderswo entwickelt worden sind. Was aber in der Erforschung neuer Medien zählt, ist konzeptionelle Überlegenheit. Technologieforschung allein wird das nicht leisten können, ganz egal, wie viel Geld die EU zukünftig in die Erforschung des Internet stecken wird. Solange die Kluft zwischen der neuen Medienkultur und der Politik, privaten und kulturellen Institutionen reproduziert wird, wird es keine blühende technologische Kultur geben. Kurz gesagt: Wir sollten aufhören, die Oper und andere schönen Künste als Form der Kompensation für die unerträgliche Leichtigkeit des Cyberspace zu betrachten. Außer ihrer Vorstellungskraft, einem gemeinsamen Willen und einem gehörigen Maß an Kreativität könnten die Europäer ihre einzigartige Qualität der Grantigkeit zu einer produktiven Form von Negativität mobilisieren. Die kollektive Leidenschaft, nachzudenken und zu kritisieren, könnte in einer Bewegung der „kritischen Antizipation“ nutzbar gemacht werden. Sie könnte das Außenseitersyndrom überwinden helfen, das dadurch entsteht, dass sich viele in die passive Rolle des Nutzers und Konsumenten gedrängt fühlen.
Jaron Lanier schrieb in seinem Nachruf auf Weizenbaum: „Wir würden es nicht zulassen, dass ein Student in der medizinischen Forschung arbeitet, der nichts über Doppelblindversuche, Kontrollgruppen, Placebos und den Abgleich von Ergebnissen gelernt hat. Warum werden in der Computerwissenschaft keine solchen Kriterien verlangt, warum erlauben wir es uns, so nachsichtig mit uns selbst umzugehen? Jeder Student der Computerwissenschaft sollte in Weizenbaumscher Skepsis geschult werden und fortan versuchen, diese wertvolle Disziplin den Nutzern unserer Erfindungen zu vermitteln.“ 2
Wir müssen uns fragen, warum die besten und radikalsten Netzkritiker USAmerikaner sind. Wir können uns nicht länger darauf berufen, dass sie besser informiert sind. Die beiden Beispiele, die ich nennen möchte, die in Weizenbaums Sinne arbeiten, sind Nicholas Carr und Siva Vaidhyanathan. Carr kommt aus der Industrie (Harvard Business Review) und hat sich zum perfekten Kritiker aus einer Insiderperspektive heraus entwickelt. Sein jüngstes Buch The Big Switch beschreibt Googles Strategie, die Infrastruktur des Netzes durch Datenzentren zu zentralisieren und so zu kontrollieren. Computer werden immer kleiner, billiger und schneller. Diese Ökonomie des großen Maßstabs ermöglicht die Auslagerung von Datenspeichern und Anwendungen zu geringen oder gar keinen Kosten. Unternehmen gehen daher dazu über, auf eigene IT-Abteilungen zu verzichten und stattdessen Netzwerkdienste zu nutzen. Diese Entwicklung hat eine durchaus ironische Seite. Denn hatten sich nicht Generationen hipper IT-Gurus über die Vorhersage des einstigen IBM-Chefs Thomas Watson lustig gemacht, der behauptet hatte, die Welt brauche nur fünf Computer? Das aber scheint der Trend zu sein. Anstatt sich weiter zu dezentralisieren, konzentriert sich die Nutzung des Internet in wenigen, Energie verschlingenden Datenzentren.3 Carrs Spezialität besteht in der amoralischen Beobachtung von Technologie, die den gierigen Charakter der Klasse jener ignoriert, die eben noch von der Dotcom- Blase profitierten, dies nun aber vom Web 2.0 tun. Siva Vaidhyanathans Projekt The Googlization of Everything hat den Ehrgeiz, kritische Google-Forschung zu einem Buch zu synthetisieren, das 2009 erscheinen soll. Bis dahin sammelt Vaidhyanathan auf einem Blog das Rohmaterial.4
Einstweilen werden wir uns obsessiv mit der schwindenden Qualität der Antworten auf unsere Suchanfragen beschäftigen – statt uns mit dem grundlegenden Problem zu befassen, nämlich der schlechten Qualität unserer Bildung und der schwindenden Fähigkeit, kritisch zu denken. Ich bin gespannt, ob zukünftige Generationen Weizenbaums „Inseln der Vernunft“ verkörpern, oder vielleicht sollte man besser sagen: designen werden. Nötig ist eine Wiederaneignung der Zeit. Im Moment fehlt sie schlicht, um wie ein Flaneur herumzuschlendern. Jede Information, jedes Objekt und jede Erfahrung soll instantan zur Hand sein. Unsere technokulturelle Grundhaltung ist eine der zeitlichen Intoleranz. Unsere Maschinen registrieren Softwareredundanz mit zunehmender Ungeduld und verlangen ständig Updates, fortlaufende Aktualisierung. Wir selbst sind nur zu willig, diesem Imperativ zu gehorchen, weil wir von der Angst vor schwindender Leistung getrieben sind. Die Experten der Benutzerfreundlichkeit beschäftigen sich mit den Bruchteilen von Sekunden, in denen wir entscheiden, ob die Information auf dem Bildschirm dem entspricht, was wir suchen. Wenn wir unzufrieden sind, klicken wir weiter. Glückliche Zufälle erfordern aber Zeit. Wir könnten also die Zufälligkeit preisen, praktizieren die Tugend der Geduld aber kaum. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, zufällig auf Inseln der Vernunft zu geraten, könnten wir uns ebenso gut selbst welche bauen. Zusammen mit Lev Manovich und anderen Kollegen vertrete ich die Auffassung, dass wir neue Wege der Interaktion mit Informationen finden müssen, neue Formen ihrer Repräsentation und neue Weisen, um ihnen Sinn abzugewinnen.
Wie antworten Künstler, Designer und Architekten auf diese Herausforderungen? Hört auf zu suchen. Fangt an zu fragen. Statt uns gegen die „Informationsflut“ zu verteidigen, sollten wir der Situation kreativ begegnen. Als Gelegenheit, neue Formen zu erfinden, die unserer informationsreichen Welt angemessen sind.
Zuerst erschienen in Lettre International 81, Sommer 2008 Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair. Dank an Ned Rossiter für editorische Hilfe und Ideen.